Die Kunst des Geschichtenerzählens...


Liane Dirks erzählt in ihrem Roman "Die liebe Angst" von der Liebe zum Vater, der mit seinen Träuumen und Märrchen alles verzaubern konnte, seine Sehnsüchte aber mit Alkohol und Sex stillte.

Rolf Everding zu Gast bei der Schriftstellerin Liane Dirks im Schloss Raesfeld

Liane Dirks gilt als großes literarisches Talent. Hoch gelobt von bekannten Literaturkritikern. All ihre bisher erschienenen Romane sind von bildlicher Fülle und sprachlicher Präzision. Von der Authentizität der Gefühle des Erlebten in Ihrem Erstlingswerk “Die liebe Angst” bis zu der biographisch wähnenden und voller Wucht geschriebenen Befreiung “Vier Arten meinen Vater zu beerdigen”.

Ihr Romanerstling “Die liebe Angst” wurde als literarisches Meisterwerk gelobt und für die Hilfe zur Selbsthilfe “Keine Gewalt gegen Kinder“ der Familienministerin eingesetzt. Liane Dirks erzählt in diesem Buch aus der Perspektive der halbwüchsigen Anne die Geschichte ihrer Kindheit. Sie erzählt von der Liebe zum Vater, der mit seinen Träumen und Märchen alles verzaubern konnte, seine Sehnsüchte aber auch mit Alkohol und Sex stillte, nie satt wurde und so auch seine beiden Töchter missbrauchte.

„Wenn ein Buch erwachsen wird, ist das eine seltsame Sache“, zitiert sie aus dem Nachwort der Neuauflage, „aber es ist nun schon mehr als 25 Jahre her, seitdem Die liebe Angst erschienen ist. Das Buch hat sich damals durchsetzen müssen. Es hat sich beweisen müssen, bei den unzähligen Lesungen, in den Betroffenen-Gruppen die damit gearbeitet haben, letztlich in den Herzen der Leserinnen und Leser, wo die Literatur nicht konsumiert wird, sondern wirkt. Dort wurde seine Wahrhaftigkeit geprüft, und dieser Vorgang hat dem Buch ein Eigenleben gegeben. Inzest ist nicht irgendein Verbrechen unter anderen, Inzest ist ein Urverbrechen. Sexueller Missbrauch ist Verrat an der Liebe des Kindes.“                     

Liane Dirks lehrt neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin in literarischen Seminaren die Kunst des Geschichtenerzählens. „Die Teilnehmer meiner Seminare sollten Lust am Schreiben im Gepäck haben, Mut sich auszuprobieren und Freude an anderen interessanten Menschen“, heißt es im Klappentext.

Meine erste Begegnung mit Liane Dirks fand im Schloss Raesfeld statt. Ich hatte mich für das Seminar „Die Kunst des Geschichtenschreibens“ angemeldet.

Unser Kennenlerntext soll Beispiel sein für das Programm: Vom Erlebten zum Erfundenen, vom Erfundenen zum Erzählten.                                        

Sie hat zum Abendessen in den historischen Burgkeller des Wasserschlosses eingeladen. Ich komme als Letzte. Frau Dirks begrüßt mich besonders herzlich, ich bin der einzige Mann in der Runde.

Hallo, schön dass Sie da sind. Hatten Sie eine gute Anfahrt, haben Sie uns hier im tiefsten Münsterland leicht gefunden?
Ja, es war leicht. Es hat zwar stark geregnet, aber mein Navi hat mich gut geführt.

So ein Gerät sollte ich mir auch anschaffen. Ich verfahre mich sehr oft. Ist ein Navi kompliziert zu bedienen?
Nein, es ist ganz einfach, man muss es sich nur richtig erklären lassen Das könnten Sie auch.

Danke für das Kompliment.. Wie heißen Sie?
Ich heiße Rolf.

Ich heiße Liane. Woher kommen Sie?
Ich komme aus Detmold.

Oh, ich hatte einen Großvater, der kam auch aus Detmold, glaube ich. Ich habe ihn nicht gekannt, aber er muss ein wunderbarer Geschichtenerzähler gewesen sein. Kennen Sie in Detmold jemand, der Dirks heißt?
Nein, leider, damit kann ich nicht dienen.

Wie gefällt Ihnen unser Schloss mit dem alten Gemäuer?
Sehr Treppen intensiv, aber wunderschön. Bei gutem Wetter muss das hier ein Traum sein.

Und was machen Sie beruflich?
Ich schreibe Reisestorys und intervieve Prominente.

Na, das ist ja richtig aufregend. Aber was wollen Sie in meinem Seminar, wenn Sie doch schon schreiben können?
Ich will von Ihnen lernen, wie ich noch besser schreiben kann. Ein paar Tricks vielleicht.

Keine schlechte Idee. Dann lassen Sie sich mal überraschen, die Kunst des Geschichtenerzählens ist eine spannende Sache. Vielleicht schreiben Sie am Ende noch ganz andere Sachen und nicht nur Reiseberichte.
Vielleicht, wer weiß

Schon dieser kleine Dialog zeigt, wie schnell etwas entsteht, dem wir glauben. Die Beschreibung eines Ortes, einer Situation, der Austausch von Informationen, die wir kennen oder wieder erkennen, die wir vielleicht ein bisschen komisch finden. Und Liane und Susanne mitten im Text, denn wir haben in Nullkommanichts die Basisdaten des Erzählens ausgetauscht. Wer, wo, was, wann, wie lange, die Helden, der Ort, die Handlung, die Zeit.
Die Gesprächspartner sind Figuren in dieser Geschichte. Sie gehören definitiv dazu, und ich sehe sie vor mir, und Sie sehen sie auch vor sich. Sie haben eine genaue Vorstellung, oder eine blasse, aber sie haben nicht irgendeine. Ich habe die Gesprächspartner mit keinem Wort beschrieben. Sie haben nicht gelesen „schlank, mit Lachfalten, aufdringlich, gebleichte Haare“, oder ähnliches, und doch haben Sie in Ihrer Vorstellung genau Ihre beiden Frauen gefunden.

Unser Kennenlern-Gespräch ist nur in diesen Text gekommen, weil ich an einem Beispiel zeigen will, wie Liane Dirks lehrt. Unsere Bekanntschaft hätte tatsächlich so beginnen können. Sie begann anders, aber mit diesem Gesprächstext beginne ich eine Geschichte zu erzählen:

Ich verbinde Erlebtes mit Erfundenem und stelle eine neue Wahrheit, die Wahrheit der Geschichte her.

Einmal setzen wir uns in einer Seminarpause in ein Café am Schlossgraben. Liane Dirks ist ein fröhlicher Mensch. Sie hat ein wunderbares Lachen, ein Lachen ohne Unsicherheit. „Geschichten zu schreiben ist eine Kunst“, sagt sie, „und wie bei jeder Kunst gehören dazu handwerkliche Fertigkeiten. Geschichten erleben und erfahren wir täglich. Kleine und große, solche die uns kalt lassen und andere, die uns nicht mehr los lassen, lustige und traurige. Geschichten zu erzählen, sie zu schreiben, kann man lernen. Erinnerungen sind ein Schatz, sie sind viel zu schade, vergessen zu werden“.

„In Amerika ist kreatives Schreiben eine große Bewegung, in einigen Staaten ist es sogar Schulfach“, erzählt sie weiter. „Ich unterrichte jedes Jahr im Sommer in den USA, in Vermont, wo ich am Middlebury College eine Gastprofessur habe. Ich wünsche mir, dass wir wieder erkennen, wie wichtig es ist, Geschichten zu erzählen. Kreativität ist das Stichwort für die Zukunft. Geschichten machen den Menschen zu einem Ganzen, sie heilen. Ich würde diese Kunst gerne auch bei uns noch mehr vermitteln, ich arbeite dran".

                                                                                                             

Liane Dirks
Am 15. November 1955 in Hamburg geboren. Der Vater war Koch. Ihre Kindheit verbrachte sie in Hamburg, auf Barbados, und in Rothenburg ob der Tauber. Sie studierte Verwaltungswirtschaft, Germanistik und Theaterwissenschaften, war feste Mitarbeiterin der Literaturredaktion des Deutschlandfunks und ist Mitglied im P.E.N. Club. Sie lebt mit ihren beiden wunderbaren Töchtern in Köln. (OTon) 1986 erschien ihr erster Roman „Die liebe Angst“. Sechzehn Jahre später schrieb sie „Vier Arten meinen Vater zu beerdigen“. Weitere Buchtitel: Narren des Glücks, Falsche Himmel, Krystyna und Der Koch der Königin.



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